Bild: © Michel Roggo - roggo.ch
Lachs & Co suchen ein gemütliches Zuhause
Kiesbänke, auf denen seltene Pflanzen wachsen, Uferanrisse, in denen Eisvögel nisten oder ruhige Hinterwasser, in die sich Fische zurückziehen. Ein natürliches Gewässer bietet vielfältige Strukturen und somit ein Zuhause für unzählige Arten. Angesichts des schlechten ökologischen Zustands unserer Gewässer müssen wir jede Chance zu deren Revitalisierung nutzen. Aqua Viva identifiziert geeignete Gewässerabschnitte und unterstützt bei der Planung und Umsetzung von Revitalisierungsprojekten.
von Christian Hossli
«Ein gemütliches Zuhause mit Garten, ein gut eingerichtetes Büro in Velodistanz – beides Dinge, auf die ich nicht mehr verzichten möchte. Auch unsere Wasserbewohner haben ein schönes Zuhause verdient, welches ihren Ansprüchen entspricht. »
Christian Hossli, Projektleiter Gewässerschutz bei Aqua Viva
Bis 2090 sollen die Kantone rund 4000 Kilometer Fliessgewässer revitalisieren. Eine grosse Aufgabe und eine riesige Chance für unsere Gewässer! Aqua Viva unterstützt die Kantone bei der Planung und Durchführung der nun anstehenden Projekte. Auch bei der Neukonzessionierung von Wasserkraftanlagen engagieren wir uns für einen gerechten Ausgleich im Sinne der Natur. Wir bringen unser Fachwissen ein, beraten bei Planung und Durchführung und bestehen auf die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben. 2021 haben wir uns an sieben Revitalisierungsprojekten entlang von Glatt (ZH), Gründlisbach (SZ), Leewasser (LU), Rhein (TG), Sarneraa (OW), Sihl (ZH) und Töss (ZH) beteiligt. Ausserdem initiieren wir mit unseren Projekten «Lebendige Thur» und «Fluss frei!» Massnahmen vor Ort und sensibilisieren die Bevölkerung für den Wert natürlicher Gewässer.
Vielfältige Lebensräume für grosse Artenvielfalt
Wir Menschen brauchen unterschiedliche Räume zum Leben. Gearbeitet wird im Büro, gekocht in der Küche, geschlafen im Schlafzimmer. Auch Fische und andere Wasserlebewesen sind auf vielfältige Strukturen im Gewässer angewiesen: schnell oder langsam fliessend, tief oder seicht, mit kiesigem oder mit sandigem Untergrund. Und diese Lebensräume müssen ausreichend gross und untereinander vernetzt sein. Nur so findet jede Art ihre Nische und kann je nach Bedarf (Nahrungssuche, Wintereinstand, Fortpflanzung) zwischen verschiedenen Gewässerabschnitten wechseln. Leider weisen die Schweizer Gewässer diesbezüglich nach wie vor grosse Defizite auf. Damit sich bedrohte oder sogar in der Schweiz ausgestorbene Arten wie der Lachs erholen können, müssen wir unsere Gewässer also wieder in einen naturnahen Zustand versetzen.
Neue Lebensräume in der Sihl
Um dieses Ziel zu erreichen, ist manchmal ein regelrechter Verhandlungsmarathon nötig. Wie beispielsweise im Rahmen der Neukonzessionierung des Pumpspeicherkraftwerks Etzelwerk am Sihlsee (SZ). Sechs Jahre verhandelten Aqua Viva und andere Umweltschutzorganisationen mit den Inhabern von der SBB. Das Ergebnis war der Mühe wert. Unterhalb der Staumauer fliesst zukünftig doppelt bis dreifach so viel Restwasser in die Sihl. Künstliche, dynamische Hochwasser mit bis zu 200 Kubikmetern pro Sekunde pflügen den Fluss alle vier bis fünf Jahre um und reissen die Kiesschicht auf. Zusätzlicher Geschiebeeintrag und eine Geschiebesanierung bei den Zuflüssen Alp und Biber sorgen wieder für mehr «Material» im Fluss. Ausserdem wird die Sihl im Sihlwald auf circa 1,7 Kilometer revitalisiert und beim Sihlhölzli eine Fischtreppe gebaut. Um den Sihlsee entsteht eine ansehnliche Zahl neuer Biotope, Waldränder werden aufgelichtet und ein extensiver Grüngürtel um den See gezogen. In der Ibergeregg wird ein Flachmoor aufgewertet. Insgesamt wird so eine Fläche von 6,5 Hektar revitalisiert.
Mehr Platz für die Natur
Auch entlang der Thur haben Aqua Viva und andere Umweltschutzorganisatianionen grossen Handlungsbedarf erkannt. Wegen den vielen Verbauungen und Kanalisierungen gingen zahlreiche Lebensräume und mit ihnen viele Tierund Pflanzenarten verloren. Entsprechend gross ist das Aufwertungspotenzial, insbesondere im mittleren und unteren Flussabschnitt. Eines der grössten Potenziale liegt an der Murgmündung bei Frauenfeld (TG). Wir haben deshalb ein Fachbüro beauftragt, ein Vorprojekt für eine Revitalisierung zu entwickeln. Fazit: Es besteht hier die Chance, einen Biodiversitätshotspot zu schaffen, welcher weit über Frauenfeld hinausstrahlen würde. Diese Chance gilt es nun am Schopfe zu packen und das Projekt möglichst bald anzugehen.
Fluss frei!
Der erste Schritt zu einer erfolgreichen Revitalisierung ist häufig die Wiedervernetzung unserer Gewässer. In der Schweiz gibt es über 100 000 Schwellen, Wehre und Staumauern, welche die Gewässer in unzählige Abschnitte zerteilen. Mit dem Projekt «Fluss frei!» arbeiten wir seit fünf Jahren daran, möglichst viele dieser Hindernisse und auch einige Blockaden in mancherlei Köpfen zu entfernen. Im Sommer 2021 konnte das Rückbauprojekt am Lattenbach in Ossingen (ZH) erfolgreich umgesetzt werden. Dabei wurden am Mündungsbereich zur Thur mehrere Abstürze (30–80 cm hoch) durchgängig gemacht. Fische können nun wieder aus der Thur in den Lattenbach schwimmen. Erfreulicherweise konnten bereits im November erste Laichgruben der Bachforelle im Lattenbach dokumentiert werden – die Vernetzung scheint also wieder zu funktionieren. Ein wichtiger Meilenstein war auch die Entwicklung unseres «Barrier Assessment Tools» (BAT). Damit können wir aus der schier unendlich grossen Zahl an Hindernissen jene identifizieren, deren Rückbau realistisch und mit dem grössten ökologischen Potenzial verbunden ist. Im Mai 2021 konnten wir das Tool im Rahmen der viertägigen Fachtagung «Dam Removal Goes Alps» rund 1000 Personen aus 50 Ländern präsentieren. Nun arbeiten wir intensiv daraufhin, dass es auch rege zum Einsatz kommt. Die Wiederherstellung intakter Gewässerlebensräume ist eine Herzensangelegenheit von Aqua Viva. Wenn es uns gelingt, unseren Gewässern wieder mehr Struktur, Raum und Dynamik zu verleihen, werden sich dort auch wieder zahlreiche Tiere und Pflanzen einfinden. Auch sie haben ein gemütliches Zuhause verdient.